SPUREN AN DER WAND
Erkundungen nach dem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“ von Elias Canetti, 1967.
Wir schreiben Botschaften an Wände.
Gedanken, Hinweise, Wünsche. Wir malen sie an, und lassen alles so stehen. Die Zeit blickt auf unsere Botschaften und sagt dem Wind, er möge sie nicht schnell wieder auslöschen. Und die Sonne leuchtet auf sie und die Menschen gehen vorbei und die Botschaften bleiben. Sie zeugen Jahre, Jahrzehnte von unseren Gedanken und Anweisungen und Bitten und unserem Sehnen.
Niemand nimmt sie mehr wahr, Tausende gehen achtlos daran vorbei.
„Spuren an der Wand“ holt die verbleichenden Zeichen an die Oberfläche, macht sie sichtbar und bringt sie in neue Beziehungen zum Betrachter. Die stummen Wünsche und Befehle, die Phantasien und Banalitäten – sie erstehen mit dem Auge des Künstlers von neuem.
Die Wände von Häusern, von Bautafeln, Türen oder Fässern bergen alle sozusagen den Handabdruck und damit auch immer die Gedankenspuren. Menschen haben sich hier betätigt, haben Materie gewordene Geistesdinge hinterlassen. Haben beispielsweise eine Olivenöl-Fabrik aufgegeben, dem Verfall preisgegeben. Jahrzehnte später steht die Ruine immer noch da. Die Spuren sind geblieben. Verwittert zeugen sie, davon, dass hier gearbeitet wurde, jemand eine Botschaft hinterlassen hat. Für wen? Für den Wind? Für die Tauben, die unter den Dächern sitzen? Für die Katzen, die über Unrat schleichen?
Es sind Botschaften, die aus dem Geist zu Material werden und dann wieder verwesen, vergilben, vergehen. Ein Kreislauf, der den Menschen kleinmacht – klein zeigt. Die Ausschnitte aus den handgemachten Botschaften zeigen, dass es nur Sekunden einer Ewigkeit sind, in denen wir etwas dalassen können, vererben können, aufschreiben können.
Und doch schreiben nur Menschen etwas auf. Übermalen, bepinseln, überkleben und vernageln die Dinge. Kein Hund, keine Schlange, kein Esel tut das.
Aber sind wir nicht auch Esel?
🙂
Liebe und Schmerz und Aufbegehren und Resignation – ALLES findet sich an den Wänden. Fand sich, ist vergangen, wird neu aufgebracht, vergeht wieder.
Sind es Männer, die sich hier verewigen?
Nie siehst du Frauen an der Wand. Hier ist kein Platz für sie? Wer weiß es.
Das Fett der Maschinen, das tranige Öl der Oliven, in den Hallen und Häusern finden sich die Spuren der Produktion. Es kommt vor, dass Schmieröl oder Taubenscheiße Botschaften zerfließen lässt, verdeckt.
So arbeiten die Gezeiten des Lebens miteinander, gegeneinander.
Du siehst diesen unscheinbaren, zähen Kampf, wenn du genau genug hinsiehst. Erkennst im Schwung des Gemalten den jungen Mann wieder, der sich hier verewigt hat. Siehst die Fabrikarbeiter, die Köchin, die Putzfrau, die der Ewigkeit eine weitere Schicht aufgebracht hat, das Vorangegangene übertüncht hat, verschüttet oder weggeputzt hat.
Wir sehen immer den Augenblick, wenn wir ihn erkennen können. Den Vorgänger kennen wir aber nicht. Was wir sehen sind Farben, Papier und Mauerreste, sind Plakatfolien und Mörtelspritzer, Blechfahnen und Plastikplanen. Alles vergilbt und vergeht, alles ist aber jetzt da. Morgen? Wir wissen es nicht.
Die Wände der Stadt sind das unbeachtete Zeugnis der Stadt. Der Beweis, das Leben ist und Leben war. Sonst wäre Stein hier und Erde. Und nur der Wind zeichnete seine Figuren in die Materie. In der Stadt zeichnet der Mensch. Das zu erkennen, ist die Lust dieser Bilder.
Warum hat jemand das Plakat zerstört? Was hat sie oder er sich dabei gedacht, mit einem Nagel (?) über den Lack einer Bautafel zu gehen? Sind es immer Männer, die verändern, affichieren, zerstören, übermalen? Was machen Frauen mit den Wänden? Betrachten sie diese, Tausende gehen ja vorbei, Tag für Tag.
Hier an den Wänden finden sich die Botschaften, die der Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti vor 55 Jahren aufgeschrieben hat. Es sind „Die Stimmen aus Marrakesch“. In 14 Kapiteln beschreibt er Szenen und Stimmen aus der „Roten Stadt“.
Stamuli hat die Stimmen an den Wänden der Häuser gefunden.
Stamuli
Herbert Starmühler (*1957) , Künstlername Stamuli, lebt und arbeitet im Waldviertel (NÖ) und nahe bei Wien. Fotograf und Journalist (trend, profil, Die Presse, Kleine Zeitung, Berliner Zeitung u.a.) lernte Bildkomposition und Malerei bei Hartmut Urban in Graz.
Aufenthalte in Luxemburg (Sender RTL), München (Bauer Verlag), und Berlin (freischaffend). Leitete als Geschäftsführer den Relaunch der Internetausgabe www.diepresse.com in Wien, der Internetausgabe der Tageszeitung Die Presse. Chefredakteur und Herausgeber von Fachzeitschriften wie PROSPECT (Theatertechnik), holzmagazin (Architektur) oder energie-bau (Umwelt, Energie). Buchveröffentlichungen und Fotoarbeiten für die eigene Plattform www.energie-bau.at.
Weitere Werke von Stamuli in der Galerie REINBERG.